Schutz der Natur

Seit vielen Jahrzehnten steht der Aletschwald in Form eines Totalreservates unter Schutz. Aber erst seit gut 20 Jahren wird das Schutzgebiet durch ein Naturschutzzentrum vor Ort betreut. Es ist in der traditionsreichen Villa Cassel untergebracht.

Auf diesen Seiten wird ein kurzer Abriß der Geschichte der Villa Cassel gegeben.

Vom Sommersitz zum Naturschutzzentrum

Ein Streifzug durch die Geschichte der Villa Cassel

Hinter der Villa Cassel liegt eine bewegte, inzwischen fast hundertjährige Geschichte. Wir haben versucht, diese Entwicklung der einstigen Sommerresidenz des reichen englischen Bankiers Sir Ernest Cassel über das »Hotel Villa Cassel« der Familie Cathrein bis hin zum ersten ersten Naturschutzzentrum der Schweiz in einigen Worten und Bildern nachzuzeichnen. Wenn Sie sich nicht für die komplette Hausgeschichte interessieren, wählen Sie einfach aus den Überschriften die passenden aus:

1. Mit einem Telegramm fing alles an...

2. Sir Ernest Cassel - Wer war dieser Mann?

3. Die Manager-Krankheit - Was Cassel im Wallis suchte...

4. Die Ankunft - Eine beschwerliche Reise...

5. Die Villa entsteht - Von der Planung zum Bau

6. Die Villa und ihre Gäste - Das exklusive Leben in der Residenz

7. Der Bankier und die Bauern - Das Verhältnis zu den Einheimischen

8. Das Ende einer Epoche - Die Folgen des Kriegsausbruches

9. Die Hotelzeit in der Villa Cassel - 45 Jahre Hotelgeschichte

10. Die Villa im Dienste der Natur - Das neue Naturschutzzentrum

11. Zwanzig Jahre Umweltbildungsarbeit

12. Die Villa auf dem Weg ins neue Jahrhundert.



Mit einem Telegramm fing alles an

Zu Beginn der Sommersaison 1895 erhielt die Familie Cathrein, damalige Besitzerin des Hotels »Riederfurka«, ein Telegramm mit folgendem Inhalt: »Reservieren Sie für 3. Juli fünf Zimmer, plus fünf Kammern für Angestellte; zwei Kutschen auf Bahnhof Brig, Mittagszug; zehn Packpferde in Mörel. Cassel, Park Lane, London R. P.«

Mit Ausnahme des Absenders war an diesem Telegramm nichts Aussergewöhnliches. Bereits anfangs des 19. Jahrhunderts hatten die Engländer mit der touristischen Eroberung der Schweizer Alpen begonnen und dabei auch die Aletschregion nicht ausgelassen. In den fünfziger Jahren erschienen hier die Bergfreunde schon dermassen zahlreich, dass die Alphütten und Maiensässe der Einheimischen ihre Zahl nicht mehr fassen konnte. So entstanden innerhalb weniger Jahre die Hotels »Riederalp«, »Riederfurka« und »Jungfrau«. Damit war nun genügend Unterkünfte für die im allgemeinen anspruchslosen »Kraut-, Stein- und Bergnarren« vorhanden.

Aber der Name, der unter diesem Telegramm stand: Sir Ernest Cassel, Bankier und einer der reichsten Männer seiner Zeit, wollte im Hotel »Riederfurka« logieren! Es versteht sich, dass dies für gehörige Aufregung nicht nur bei Catharina Cathrein sorgte, die damals bereits die Hotels ihrer Familie verwaltete, und sich natürlich Gedanken machte, ob die einfachen Schlafkammern, die niedrige und verrauchte Gaststube und die Küche mit dem gestampften Lehmboden den Ansprüchen der englischen Herrschaften würde genügen können.

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Sir Ernest Cassel

Wer aber war dieser Engländer, was hat ihn dazu bewogen, ausgerechnet zu jener Zeit das bequeme und weltläufige gesellschaftliche Leben Londons zu verlassen, und ausgerechnet dieser kaum zugänglichen Alp einen Besuch abzustatten?

Er wurde am 3. März 1852 mit dem Namen Ernst Cassel als Sohn jüdischer Eltern in Köln geboren, wo sein Vater einen kleinen Geldverleih betrieb. Mit vierzehn Jahren beginnt er eine Banklehre, aber schon zwei Jahre später verläßt er seine Heimat und arbeitet bei verschiedenen Privatbanken in Liverpool, Paris und später London.

Eine rasche Auffassungsgabe, ein zäher Wille und ein untrügliches Urteil in finanziellen Angelegenheiten führen ihn auf dem kürzesten Weg in die Führungsebene eines angesehenen Bankhauses, wo er nicht nur einige schon verloren geglaubte riskante Investitionen sichern kann, sondern auch sein eigenes Gehalt binnen eines Jahres von 200 £ auf 5000 £ steigern kann. Es versteht sich von selbst, daß er sein Geld gewinnbringend anzulegen versteht, und noch vor seinem dreißigsten Lebensjahr verfügt Cassel bereits über ein privates Vermögen von 150'000 £.

Bald schon eröffnet er sein eigenes Büro, investiert in Goldminen in Sibirien ebenso wie in die Erzförderung in Schweden, hält Anteile an Stahlkonzernen wie an Eisenbahngesellschaften, finanziert Bewässerungsprojekte in Ägypten ebenso wie Staatsanleihen für Mexiko, China und Uruguay. Als er 1921 starb, hinterließ er ein Vermögen von umgerechnet 400 Millionen heutigen Schweizer Franken.

Zahlreiche Orden und Auszeichnungen zeugen aber auch von der hohen gesellschaftlichen Anerkennung, die er genoß. Er heiratete 1878 die Engländerin Annette Maxwell, und verkehrte bald in den angesehensten Londonder Kreisen aus Adel, Politik und Hochfinanz. Nachdem zu Beginn des Jahrhunderts aus dem deutschen Ernst Cassel »The Right Honourable Sir Ernest Cassel« wurde, berief ihn der englische König Edward VII 1902 zu seinem privaten Finanzberater und Geheimkämmerer.

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Die Manager-Krankheit

Zwar schätzte Cassel die Aufenthalte und Einladungen auf seinem englischen Landsitz sehr, machte im Winter oft auch in Biarritz in der Schweiz Station, aber freiwillig wäre er wohl nie auf die Idee gekommen, den Sommer auf einer abgelegenen Alp im Wallis zu verbringen. Jedoch hinterließ das anstrengende und aufreibende Leben zwischen beruflicher Tätigkeit und gesellschaftlichen Anlässen seine Spuren: Deutliche Magenprobleme, heute würde man sie Managerkrankheit nennen, plagten ihn, das jedenfalls lassen spätere Funde in der Villa Cassel vermuten. Und so vertraute sich Cassel dem Leibarzt der Königin Victoria, Sir William Broadbent an. Dieser verordnete strikte Ruhe und frische Bergluft, und da er ein grosser Freund des Aletschgebietes war, und selbst mit seiner Famile schon so manchen Sommer dort verbracht hatte, legte er seinem Patienten genau diese Gegend ans Herz. Hätte es nicht ein bekannterer Ort sein können, der wenigstens ein adaequates Hotel zu bieten hat, mag Cassel sich gedacht haben. Doch das ärztliche Verdikt bestand, Sir Ernest fügte sich, und machte sich auf zu dieser gottverlassenen Walliser Alp.

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Die Ankunft im Wallis

Nach strapazenreicher Bahnfahrt über den halben europäischen Kontinent trifft nun Sir Ernest Cassel mit Damen, Kindern, älteren Gentleman und den Bediensteten im Juli 1895 in Brig ein.

Mit Pferdekutschen geht es nach Mörel, und dort werden die werten Herrschaften mitsamt ihren Koffern, Packkörben und Hutschachteln auf Maultiere gesetzt, eine andere Alternative zum Herauflaufen gibt es zu diesem Zeitpunkt nicht, bis 1950 war die Riederalp nur zu Fuss oder per Maultier erreichbar.

Der verwöhnten englischen Gesellschaft behagt das einfache Leben in der Riederfurka nicht. Das Nachtessen müssen sie zusammen mit lauter wildfremden anderen Leuten an einem Tisch einnehmen, am nächsten Morgen werden sie sehr früh zum Morgenessen geweckt, und schon am zweiten Tag beschliesst Cassel abzureisen und gibt ein Telegramm nach London an seinen Arzt auf: »Hotel unmöglich, schlagen Sie etwas anderes vor. Cassel.« Die Antwort ist ebenso knapp wie rasch da: »Lehne ab, Sie zu behandeln, falls Sie nicht bleiben. Ankomme nächste Woche. Broadbent.»

Cassel blieb. Wenn man nun schon einmal da war, konnte man wenigstens das Gebiet ein wenig kennenlernen. Und so staunten die Hirtenbuben nicht schlecht, als da im Aletschwald die feinen Herschaften spazieren gingen, in geziemendem Abstand gefolgt von der Lakaienschar, die das für die unverzichtbaren Teepausen nötige Kleingerät wie Tische, Stühle, Picknickkörbe, Sonnenschirme etc. mitschleppten.

Ob es nun die ärztliche Autorität war, oder Cassel schon nach kurzem dem Reiz der Landschaft, des Aletschwaldes und des Grossen Aletschgletschers erlag, wissen wir nicht. Aber er kam regelmäßig wieder, nicht ohne sich nach einem Bauplatz für ein Anwesen umzuschauen, das ihm und seinen Gästen eine standesgemässe Unterkunft bieten könnte. Da Cassel sich um die armen Berggemeinden von Ried und Betten durch grosszügige Spenden für den Bau von Gemeindeschulen verdient gemacht hatte, bekam er als Zeichen der Dankbarkeit auf der Riederfurka ein Grundstück von 13.000 Quadratmetern Alpboden zugesprochen, nur wenige Schritte von dem einst so ungeliebten Hotel Riederfurka entfernt.

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Die Villa entsteht

Im Sommer 1899 fanden einige entscheidende Besprechungen für den Bau der beabsichtigten Sommerresidenz auf der Riederfurka statt. Dem Stilempfinden der Zeit und vielleicht auch dem viktorianisch geprägten Geschmack seines Bauherrn entsprechend entwarf der Architekt von Cassel ein Herrschaftshaus, das durch ein feinteiliges Bretterwerk an der Fassade seinen Fachwerkcharakter erhielt, und -wie der Rieder Pfarrer Ignaz Seiler gerne feststellte- das »so gut in die Landschaft passt wie ein Fünfliber in einen Kuhfladen«.

Unmittelbar wurde mit den Transporten des Baumaterials begonnen. Die Bauern waren froh um diese seltene Gelegenheit, sich durch den Transport von Baumaterialien von Mörel auf die Riederfurkaein wenig Bargeld zu verdienen. Pro Zementsack erhielten die Bauern etwa zwei Franken, ein sauer verdientes Geld, wenn man bedenkt, daß der Aufstieg von rund 1200 Höhenmetern schon ohne Gepäck drei bis vier Stunden dauert. Oder wenn man sich den Transport des Klavieres aus dem Rhonetal hinauf in die Villa Cassel vergegenwärtigt: VierAblösungen zu je vier Mann quälten sich zwei volle Tage ab, bevor der Inbegriff elitärer Salonromantik an seinem Platz stand.

Lediglich Steine und Holz stammten aus der nahen Umgebung. Während man die Steine nahe unterhalb der Riederfurka brach, wurde das Holz aus dem unterhalb des Aletschwaldes gelegenen Teiffwald geholt. Eine Zeit lang bediente man sich auch des Kalkmörtels aus den Kalköfen am Rande des Aletschgletschers, der aber bald durch höherwertigen Zement aus dem Rhonetal ersetzt wurde.


Im Untergeschoss erhielten die Küche, Weinkeller, Speisekammer, Werkstatt und Wirtschaftsräume ihren Platz. Im Erdgeschoss befanden sich neben dem Speisesaal, Salon und Fumoir auch Cassels Bureau, während das erste und zweite Geschoss die großzügigen Schlafgemächer für die Familie Cassel und ihre Gäste beherbergten. Im Dachstock schließlich, welcher nur über eine enge Dienstbotentreppe zu erreichen ist, waren einfache Kammern für Diener, Zofen und Hauspersonal vorgesehen. Die geschwungene und breite Treppe im Turm der Villa verband das Erdgeschoss mit dem ersten und zweiten Stock, und war nur für die Gäste vorgesehen.

Auch die Innenausstattung der Räume war vom Feinsten. Prächtige Parkettböden, kasettierte Decken mit feinsäuberlich aufgemalter Holzmarmorierung und wertvolle Stofftapeten wurden ergänzt durch Möbel aus Genf und Hausrat aus ganz Mitteleuropa.

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Die Villa und ihre Gäste

In einer Rekordzeit von nur zwei kurzen Alpsommern gelang es, diese 25-Zimmer-Villa auf der Riederfurka zu vollenden. Im August 1902 trugen sich die ersten Gäste in das Ehrenbuch der Villa Cassel ein. Dazu zählte in besonderer Weise die Familie von Ernest Cassel. Nachdem seine Frau bereits 1881 an einer Lungenentzündung gestorben war, wandte sich Cassel um so intensiver seiner Schwester Minna und seinem Neffen Felix Cassel und vor allem seiner Tochter Maud und deren Töchtern Mary und Edwina (die spätere Lady Mountbatton und Vizekönigin von Indien) zu. Für die beiden Enkelinnen ließ er später das Chalet Cassel neben der Villa erreichten, damit die beiden so viel wie möglich in seiner Nähe waren, ohne sich jedoch allzu störend in der Arbeit und den Vergnügungen der Erwachsenenwelt bemerkbar zu machen. Schliesslich entsagte Cassel auch in seiner Sommerresidenz nicht wirklich seiner Arbeit. Schon 1901 hatte er auf eigene Kosten eine Telefonleitung zur Villa legen lassen, um wichtige Geschäfte weiterhin rasch erledigen zu können, und stets über die neusten Nachrichten zu verfügen. Und noch heute künden Briefpapiere und Korrespondenz von Cassel (ausgestellt in unserer Ausstellung) wie auch ein geheimes Dossier über seine Aktivitäten in sibirischen Goldminen (für Hausgäste einsehbar in unserer Bibliothek) von dem unermüdlichen Arbeiter.

Ansonsten fanden sich im Sommer zahlreiche bekannte und einflussreiche Gäste von Politik und Hochfinanz aus England, Deutschland, Frankreich und Amerika in der Villa Cassel ein, nicht zuletzt auch der junge Winston Churchill, der mindestens viermal im Sommer hier aufhielt. Er nutzte die Zeit, um an seinen Büchern zu schreiben, unter anderem an der Biographie seines Vaters. Aus dieser Zeit ist überliefert, daß Churchill sich eine der ersten Schreibmaschinen heraufkommen ließ, weswegen bald das Gerücht durch das Dorf ging, in der Villa Cassel würden Bücher -oder gar Banknoten?- gedruckt. In Erinnerung geblieben ist auch, daß er das Läuten der Kuhglocken als äußerst störend empfand, und öfter wütend auf die Hirten einschimpfte. Jedoch nützte es nichts, denn sie verstanden kein Englisch. Erst Cassel verstand den Konflikt zu lösen, indem die Hirten für ein wenig Geld Heu in die Glocken stopften, so daß für die Zeit von Churchills Aufenthalt relative Ruhe herrschte.

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Der bankier und die Bauern

Natürlich gab die exklusive und fremde Gesellschaft in Cassels Sommerresidenz zu zahlreichen Gerüchten und Mutmassungen Anlass, und es wurde viel geredet über die eigenartigen Leute mit ihrem sonderbaren Verhalten auf der Riederfurka. Dennoch war Cassel bei der einheimischen Bevölkerung hoch geachtet und in seiner Art respektiert. Einserseits forderte er Distanz und hielt sie auch selbst - so verweigerte er zum Beispiel während der Wochen seiner Anwesenheit im Sommer der einheimischen Bevölkerung die Benutzung des Rundweges um das Riederhorn, den er für seine herzkranke Schwester hatte anlegen lassen. Auf der anderen Seite revanchierte er sich durch grosszügige Geldspenden für gemeinnützige Zwecke. Noch heute besteht eine seiner Tochter gewidmeten Stiftung, deren Zinserlös jährlich an Bedürftige in den umliegenden Gemeinden ausgeteilt wird. Und auch das alljährlich im August stattfindende Casselfest, bei dem die Einheimischen einige Stunden zu Speise, Trank und Tanz vor der Villa eingeladen waren, sprachen für den Versuch Cassels, auch den Kontakt zu seinen so anderen Nachbarn zu pflegen.

Nicht zuletzt fanden natürlich auch einige Einheimische Beschäftigung in der Villa Cassel, ob als Proviantträger, der jeden Morgen um 7 Uhr frische Brötchen aus Mörel heraufzubringen hatte oder als Bergführer, der Cassels Gästen stets für kleinere Spaziergänge oder auch grössere Bergtouren zur Verfügung stand.

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Das Ende einer Epoche

Auch 1914 waren alle Vorbereitungen für den Sommeraufenthalt auf der Villa Cassel schon getroffen. Doch die Anzeichen für einen Krieg in Europa haben sich verstärkt. Zwar hat Cassel in den vergangenen Jahren seinen Einfluss in Deutschland und England geltend gemacht, und wo möglich für den Frieden geworben. Er sprach sich mit Churchill und anderen englischen Ministern ab und traf 1912 sogar mit Kaiser Wilhelm II in Berlin zusammen, um über den Flottenkonflikt zwischen England und Deutschland zu verhandeln. Aber nach dem Attentat auf den österreichischen Kronprinzen Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 in Sarajewo verloren alle Verhandlungen bald ihren Sinn. Zu keinem anderen Zeitpunkt mag die Telefonleitung von der Villa Cassel nach Brig eine derart bedeutende Rolle gespielt haben, denn auch in letzter Minute versuchte Cassel zusammen mit anderen maßgebenden Männern der Hochfinanz und der Wirtschaft noch, die Regierungen von Deutschland und England umzustimmen und von einem Krieg abzubringen. Aber die verhängnisvolle Kaskade von Drohungen und Gegendrohungen, Ultimaten und Solidarität der verbündeten Staaten hat sich bereits derart hochgeschaukelt, dass es keinen Weg zurück gibt. Cassel verlässt erst im bereits aufkeimenden Chaos die Schweiz. In den darauffolgenden Jahren lässt er zwar immer im Sommer die Villa für sein Kommen vorbereiten, jedoch verhindern die Wirren des Krieges und Cassels immer schlechterer Gesundheitszustand sein Kommen. Nicht weniger als die Sorge um sein finanzielles Werk trifft ihn sein Mißerfolg bei dem Bemühen um einen Frieden, über den frühen Tod seiner Frau und seiner Tochter kommt er ebenso wenig hinweg wie über die Tatsache, dass er nun plötzlich auch in England wieder als deustcher Jude und damit als potentieller Verräter galt, obwohl er doch erst kurz zuvor immense private Kriegsanleihen von England gezeichnet hatte. Cassel starb verbittert am 21. September 1921 in seinem Haus in London.

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Die Hotelzeit in der Villa Cassel

Haupt-Erbin des riesigen Imperiums aus Beteiligungen und Grundbesitz wurde Edwina, Cassels eine Enkelin, die ihm in seinen letzten Lebensjahren beständig zur Seite gestanden hatte. Was hätte sie, die in die weite Welt hinausstrebte und damit eher Indien denn die Schweizer Bergwelt meinte, nach Cassels Tod mit der Villa auf der Riederfurka und den zahlreichen anderen Landsitzen in Englandm Frankreich und der Schweiz anfangen sollen?

Daher wurden die Villa und das Chalet Cassel 1924 an die Hoteliersfamilie Cathrein verkauft, und nachfolgend vorsichtig für den Hotelbetrieb umgestaltet. Die wesentlichen Strukturen und die besondere Atmosphäre des Hauses blieben jedoch erhalten. Aber der Hotelbetrieb blieb mühsam und teuer, das Eis musste nach wie vor zwei Mal in der Woche vom Gletscher geholt werden, die Lebensmittel kamen wie bisher auch per Maultiertransport aus dem Tal, und das Haus wurde mit Holz und Kohle beheizt. Die Schicht der Gäste änderte sich, anstelle der High-Society kamen nun verstärkt Ärzte, Ingenieure, Beamte, auch zahlreiche Hochschullehrer wie der Historiker Arnold Joseph Toynbee.

In den sechziger Jahren veränderte der aufkommende Massentourismus immer mehr das Publikum, die Ansprüche stiegen, zahlreiche bequeme und preiswerte Ferienchalets entstanden, mit denen die im Unterhalt und Betrieb sehr teure Villa nicht konkurrieren konnte. So wurde das Haus 1969, nach 45 ununterbrochenen Jahren Hotelbetrieb geschlossen. Zusehends verfielen die Villa und das benachbarte Chalet Cassel.

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Die Villa Cassel im Dienste der Natur

Die Villa Cassel erwies sich als zäh und trotzte den wechselnden Bedingungen ein weiteres Mal. Anstelle des drohenden Abrisses erlebte sie auf diese Weise eine dritte Geburt: Sie wurde durch den damaligen Schweizer Bund für Naturschutz, heute Pro Natura, erworben und für über drei Millionen Franken gründlich renoviert und umgebaut.

Als Naturschutzzentrum Aletschwald wurde sie am 10. Juli 1976 feierlich neu eröffnet und eingeweiht. Tausende von Besucherinnen und Besuchern schritten über den restaurierten Parkettboden, bewunderten die originalen Stofftapeten und kostbaren Holzvertäfelungen, das Mobiliar oder die ausgestellten Dokumente von Sir Cassel. Jedoch war die Villa nicht nur als museale Erinnerung an die Frühzeit des Tourismus rekonstruiert, sondern auch in Erwartung ihrer Aufgabe als Naturschutzzentrum umgebaut worden. Im Untergeschoss waren nun die grosse Küche, Essräume und sanitäre Einrichtungen untergebracht, das Erdgeschoss mit dem Salon und dem früheren Speisezimmer stand im Dienste der naturkundlichen Ausstellung. Der erste Stock beherbergte die Bibliothek mit zahlreichen Werken zu der Region, aber auch noch Büchern aus der Zeit des Sir Cassel, ausserdem Studien- und Kursräume mit Tafel, Mikroskopen, Binokularen etc. Im zweiten Stock und im früheren Dienstbotenbereich wie auch im Chalet Cassel hatten nun die Betten für 65 Kursgäste und die Arbeits- und Wohnräume für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Naturschutzzentrums Platz.

Es versteht sich von selbst, dass dieser Umbau nur unter grossen Anstrengungen finanziert werden konnte. Die Villa Cassel wurde zum Sammelobjekt der alljährlichen »Schoggitaler-Aktion« wie auch der gelichzeitig stattfindenden »Spende der Wirtschaft«, zusätzlich wurden zahlreiche weitere Spenden gegeben, und auch der Bund und der Kanton trugen ihren Teil zur Finanzierung bei. Erstmals wurde 1981 die Tradition des Casselfestes wieder aufgegriffen, und einheimische Bevölkerung wie auch Touristen eingeladen zur Begegnung mit den Vertreterinnen und Vertretern des Naturschutzes.

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Zwanzig Jahre Umweltbildungsarbeit

Das junge Naturschutzzentrum entwickelte sich stetig weiter. Im Jahr 1979 konnte nach zweijährigen Vorarbeiten auf über einem Hektar der neue Alpengarten eröffnet werden, der die verschiedenen pflanzlichen Lebensräume von über 300 Alpenpflanzen der Aletschregion für die Besucherinnen und Besucher darstellt. Im Jahr 1996 feierte das Naturschutzzentrum sein zwanzigjähriges Jubiläum. Mehrere hunderttausend Besucherinnen und Besucher hatten bisher die naturkundliche Ausstellung und das Reservat Aletschwald besucht, viele Zehntausend waren Gast einer der vielen verschiedenen Exkursionen oder der Ferien- und Fortbildungswochen. Zum Jubiläum wurde 1996 mit grossem Engagement eine vollkommen neu gestaltete naturkundlichen Ausstellung realisiert.

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Die Villa auf dem Weg ins neue Jahrhundert

Und wie geht es weiter? Auch wenn die Philosophie des Naturschutzzentrums, den Besucherinnen und Besuchern der Aletschregion die Natur des Aletschwaldes und seiner Umgebung näherzubringen, und um Verständnis für seinen Schutz zu werben, unverändert blieb, so hat sich doch über die Jahre die Ausrichtung der Arbeit immer wieder den aktuellen Erfordernissen und den Wünschen und Interessen der Gäste angepasst. Jedes Jahr werden neben beliebten und bewährten Themen auch ganz neue Ideen für naturkundliche Kurse vorgestellt, die Palette der von angebotenen Exkursionen wächst, und gerade im Bereich der Umweltbildungsarbeit gibt es auch immer wieder viel Neues zu lernen und auszuprobieren.


Gleichzeitig fordern die Entwicklungen des nicht immer mit dem Naturschutz im Einklang stehenden Tourismus großes Engagement, wenn es zum Beispiel die geplante Seilbahn von der Riederalp über den Gletscher zur Belalp zu verhindern gilt, oder wenn die stellenweise noch gut erhaltenen, reichstrukturierten Walliser Kulturlandschaft vor der Intensivierung oder Nutzungsaufgabe geretten werden soll. Ganz neue Ideen eines Weltnaturerbe-Gebietes Aletsch sind in der Diskussion, an der das Naturschutzzentrum engagiert beteiligt ist.

Für den Alpengarten ist ein neuer interaktiver Naturerlebnis-Lehrpfad in der Planung. Die Verwirklichung einer ökologischen Betriebsführung, die u.a. auf regionale Versorgung mit biologisch erzeugten Lebensmitteln setzt, schreitet voran. Nachdem die Fassaden der Villa inzwischen renoviert wurden, steht nun die Neugestaltung und Renovierung der Innenräume ganz oben auf der Wunschliste.

Zugleich hat sich aber die finanzielle Situation im Naturschutz in den letzten Jahren leider nicht gerade verbessert. Mehr denn je ist der Naturschutz auf Unterstützung angewiesen, um das bisher Erreichte aufrecht zu erhalten und Visionen und Ideen für die Zukunft entwickeln.

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Quellenhinweise

Der grösste Teil dieses Textes ist angelehnt an das Buch »Villa Cassel - ihr Erbauer, ihre Gäste, ihre Wandlungen« von Ulrich Halder, erschienen in der zweiten Auflage 1988 bei Pro Natura, Schweizer Bund für Naturschutz, Basel. Es befindet sich momentan in der Überarbeitung, und wird im Laufe von 1999 wieder erhältlich sein.

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Meine Unterkunft während der Arbeit

Es gibt wohl kaum eine romantischere Unterkunft als die wunderschöne Aletschhütte aus Arvenholz, die über einige Monate mein Quartier bildete. Daher zum Abschluß ein Foto von ihr.



 

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© by Silvan Rehberger · youngbrain: GmbH ·- Zuletzt aktualisiert am 29. Mai 1999